Nur ein Kuss

Es war nur ein Kuss. Nur einer und er hatte nichts zu bedeuten. Richtig? Nur ein Kuss.

Wie kann er nichts bedeuten? Er ist nicht einfach passiert, er hat einen Anfang genommen, irgendwo in einem Blick, einem Lächeln, einem Gespräch. Er erschien nicht aus dem Nichts heraus und verflog im selben. Dann hätte er vielleicht keine Bedeutung. Ein Kuss bedeutet Nähe, mehr als wir zu den meisten Menschen jemals aufnehmen. Wenn wir lieben, vertrauen wir (zumindest die meisten von uns) darauf, dass dieser Kuss uns gehört, uns allein. Manche nennen das naiv, andere wollen wissenschaftlich festgestellt haben, dass wir zu Monogamie nicht geschaffen sind. Das mag sein, auch wenn ich das nicht glaube, wozu wir aber auch nicht gemacht sind, ist zum Teilen. Wir müssen als Kinder lernen, dass Teilen richtig ist, obwohl wir all den Glitzer, die Leckereien, die Zuneigung gerne für uns beanspruchen würden. Natürlich macht Teilen Sinn, aber es entspricht eben nicht unserem Instinkt. Deshalb kann es sein, dass Monogamie nicht natürlich ist, aber das bedeutet nicht, dass wir teilen müssen, sondern nur, dass Beziehungen gelegentlich enden. Der Kuss oder sogar mehr als ein Kuss sind nicht Teil des Konzepts, so sehr wir es auch drehen und wenden. Die Wissenschaft befreit uns nicht vom schlechten Gewissen und löst auch nicht das Problem. Denn das ist nicht der Kuss, sondern der Anfang. Der Blick, das Lächeln, die Intention. Dort beginnt alles. Das missbrauchte Vertrauen, der gebrochene Bund. Vielleicht war die Einigung unausgesprochen, aber sie war da. Wir bilden eine Einheit und vertrauen darauf, dass wir die Zukunft gemeinsam gestalten, Seite an Seite kämpfen, uns den Rücken freihalten, Geheimnisse teilen und bewahren. Diese Nähe, das Urvertrauen lässt sich nicht teilen, mit Fremden, mit Außenstehenden, mit anderen. Deshalb ist ein Kuss nicht nur ein Kuss. Er hat eine Bedeutung, eine große sogar. Und nein, kein Kuss ist auch keine Lösung, sondern nur ein Flicken auf dem Problem. Nähe ist nicht nur körperlich, sie entsteht auch im Kopf. Reisende soll man nicht aufhalten und kann es wahrscheinlich auch nicht. Dieser Kuss ist auch ein Abschied, vielleicht noch kein endgültiger, aber bestimmt der erste Schritt. In Gedanken stehen die Koffer bereit und die ersten Geheimnisse, persönlichen Details sind schon gepackt, um an einen anderen Ort getragen zu werden, zu neuen Ohren, zu einer anderen Person. Das macht den Kuss zum Ende des Anfangs. Er setzt hinter den Blick, das Lächeln, das Gespräch, die Nachricht im Chat das Ausrufezeichen, das nicht zu übersehen ist, selbst wenn wir die übrigen Anzeichen ignorieren.

Es war nur ein Kuss, nur einer und doch so viel mehr.