Roadtrip, Liebe, Kolumne

Liebe auf den ersten Blick

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Die Frage, ob Liebe auf den ersten Blick existiert, scheidet Geister und füllt Liebesromane. Ich weiß, dass es sie gibt, nicht weil ich sie erlebt habe, sondern weil ich gleich zwei solcher plötzlich verliebten Paare kenne. Ich stand daneben, als sie passierte.

Wer ist das?

war die Frage einer Freundin in die Gruppe, als sie ihren Mann zum ersten Mal sah. Die Antwort hörte sie nicht mehr, sie steuerte bereits auf den Mann, ihren Mann zu. Seither haben die beiden kaum eine freie Minute getrennt voneinander verbracht. Sie sind sofort zusammengezogen, haben innerhalb eines Jahres geheiratet und ein Kind bekommen. Inzwischen sind Jahre vergangen und ein weiteres Familienmitglied hinzugekommen. Glücklich sind die beiden immer noch.
Die Geschichte klingt unrealistisch, überstürzt, waghalsig. Was wäre passiert, wenn die Beziehung schief gegangen wäre? Die beiden später gemerkt hätten, dass sie gar nicht zusammen passen? Die Antwort ist simpel, vielleicht naiv und trotzdem wahr: Die Sache konnte nicht schief gehen, weil nicht Gefallen, Anziehung oder Leidenschaft die Triebfeder war, sondern Liebe.

Es war, als würde meine Seele nach Hause kommen.

Mit diesem Satz beschrieb eine andere Freundin den ersten Blick auf ihren Mann. Die Vorstellung ist wunderschön und erinnert mich unweigerlich an Sam und Polly aus Augenblicklich ewig. Wäre es möglich, dass wir uns gar nicht auf den ersten Blick verlieben, sondern mit nur einem Wimpernschlag eine verwandte Seele erkennen? Zumindest würde das den ersten Gedanken erklären, der mir durch den Kopf schoss, als mein Mann den Raum betrat.

Das ist er also.

Verrückt oder? Es war keine Liebe auf den ersten Blick, die kam später, zumindest glaube ich das. Da war kein Kribbeln, sondern Überraschung, über den Gedanken, der so plötzlich aus dem Nichts kam, das ich ihn nicht einmal bewusst denken konnte. Woher er kam? Keine Ahnung. Vielleicht hat meine Freundin recht und unsere Seele, unser Geist, oder wie auch immer man unsere Essenz nennen möchte, erkennt sein Gegenstück, ohne dass unser Verstand dazu beitragen muss. Die Vorstellung ist großartig, aber die Folgen beängstigend. Was machen all diejenigen, deren Seelenverwandte am anderen Ende der Welt wohnen? Oder sorgt das Schicksal dafür, dass wir ihnen auf jeden Fall begegnen? Das wäre zu einfach, oder? Eine Leserin schrieb mir, dass sie auf den ersten Blick wusste, dass ihr Mann, ihr Seelenverwandter ist, ihn allerdings noch überzeugen musste. Er hat sich nicht getraut zu springen, kopfüber in die Liebe und das neue Leben. Warum? Ich weiß es nicht, aber ich bin überzeugt davon, dass unsere Vorsicht, die Tendenz, uns zurückzuhalten, obwohl sich etwas gut und richtig anfühlt, in dem begründet liegt, was uns beigebracht wird. Zusammenzuziehen, einen Tag, nachdem wir einander kennengelernt haben, zu heiraten, bevor die Beziehung auf die Probe gestellt wurde, wird als übermütig oder sogar dumm abgetan. Weil dieses Verhalten nicht der Norm entspricht, weil man das nicht so macht, weil es die Liebe auf den ersten Blick nicht gibt. Nur gibt es sie, das weiß ich genau und vielleicht müssen wir uns einfach nur von dem lösen, was andere uns als Wahrheit verkaufen, um diese Liebe zu sehen. Uns trauen, wenn unser Herz uns den Weg weisen will.
Nirgends steht geschrieben, dass wir uns an Datingregeln halten müssen. Niemand kann behaupten, das Einhalten von Zeitfenstern für den ersten Kuss, die erste Wohnung, die Hochzeit, Kinder Glück garantiert. Diese Regeln beruhen auf Traditionen, von denen die wenigsten wissen, woher sie stammen und ob sie jemals sinnvoll waren. Ihr Einhalten ist Ausdruck unserer Sorgen und Ängste. Was wäre gewesen, wenn meine Leserin ihren Mann nicht überzeugt hätte? Wir fürchten uns davor, verletzt zu werden, zurückgewiesen, ja sogar davor, uns lächerlich zu machen. Deshalb warten wir, prüfen, geben nur so viel von uns wie nötig und möchten dafür alles vom Gegenüber bekommen, damit wir sicher sein können, beruhigt, keinen Fehler zu machen. Verständlich, doch das Leben hat eigene Pläne und das Schicksal offenbar auch. Wenn wir Menschen fragen, die ewig verheiratet sind, glücklich und in sich ruhen, ob ihre Beziehung davon abhängt, wann sie welchen Schritt gegangen sind, werden sie mit Sicherheit Nein sagen und nur die Zeit bereuen, die sie ohne ihren Partner verbracht haben. Wenn wir getrennte oder geschiedene Paare fragen, ob sie noch zusammen wären, wenn sie einen Tag, einen Monat, ein Jahr später zusammengezogen wären oder geheiratet hätte, werden sie das sicher ebenfalls verneinen. Für die große Liebe existiert kein Sicherheitsnetz. Regeln und Normen halten uns am Boden fest und verhindern, dass wir unsere Flügel ausbreiten. Es gibt sie, die Liebe auf den ersten Blick und jeder, der sie findet, sollte sie packen und für immer festhalten, ohne Angst zu fliegen.

What if I Fall? Oh, but my darling what if you fly? (Erin Hanson)